»The Cal« hoch zwölf: Vom Pin-up zum Kulturgut
Die Arbeiten am Pirelli Kalender 2021 sind eingestellt, eine Veröffentlichung gestrichen. Dafür spendet der italienische Reifenhersteller 100.000 Euro für den Kampf gegen das Coronavirus sowie dessen Erforschung. »Wir werden zu gegebener Zeit zu dem Projekt zurückkehren, gemeinsam mit den Menschen, die aktuell mit uns daran gearbeitet haben«, teilte der stellvertretende Vorstandsvorsitzende und CEO von Pirelli, Marco Tronchetti Provera, mit. Es ist nicht der erste Pirelli-Kalender, der nicht erscheint. Bereits die allererste Ausgabe 1963 wurde seinerzeit kurzerhand gestrichen. 1967 soll angeblich der Vatikan interveniert haben. Und von 1975 bis 1983 sorgten Ölkrise und Rezession für einen Ausfall.
Die Prä-Pirelli-Ära
Bilder mit Frauen in erotischen Posen gab es schon immer – in der Kunst. Anfang des 20. Jahrhunderts tauchten sie immer häufiger auf Plakaten und als Postkarten auf. Illustrationen zum Aufhängen. Das Pin-up war erfunden. Fortan dienten erotisierende Bilder von Frauen als (Ver-)Kaufargument vom Groschenroman über Kosmetikartikel bis hin zur Brause. Im Zweiten Weltkrieg dienten Pin-up-Girls zudem als Motivationshilfe für amerikanischen G.I.‘s, in den 1950ern boomten die Bilder mit den Frauen in kessen Posen und figurbetonten Kleidern.
Der Fehlstart
Die britische Tochtergesellschaft von Pirelli fasst Anfang der 1960er den Entschluss, den Verkauf von Reifen mithilfe von Pin-ups anzukurbeln. Das Konzept: Man nehme je eine weibliche Schönheit aus den zwölf Hauptmärkten von Pirelli, platziere diese vor dem jeweils am häufigsten verkauften Produkt, packe diese Fotos in einen Kalender und schenke diesen allen freien Händlern, die daraufhin ihren Kunden von den Kurveneigenschaften der Pirelli-Reifen vorschwärmen. So oder so ähnlich hatten sie sich das wohl gedacht in England. In der Mailänder Zentrale sahen sie das etwas anders. War ihnen alles zu platt. Das Projekt wurde gestoppt.
Der zweite Versuch
Die Briten geben nicht auf. Im Jahr darauf engagiert Pirelli UK Limited mit Robert Freeman den damaligen Lieblingsfotografen der Beatles. Der schnappt sich seine Frau und ein weiteres Model, fliegt nach Mallorca, lässt die beiden Damen im Bikini am Strand posieren und verzichtet in seinen Bildern auf jede noch so kleine Anspielung auf Pirelli und deren Reifen. Das gefällt jetzt auch Mailand. Der erste Pirelli Kalender erscheint 1964.
Die frühe Phase
Das neue Konzept kommt an. Schon im Jahr darauf wird das weihnachtliche Werbegeschenk zum begehrten Sammlerobjekt. Was allerdings auch andere Institutionen auf den Plan ruft. Der Kalender 1967 wird gestrichen, wohl auf Intervention des Vatikans, dem das alles zu freizügig ist. Es hagelt Proteste. 1968 erscheint wieder ein Kalender. Und mit dem Zeitgeist der sexuellen Revolution wird alles freizügiger, die Bekleidung knapper, die Posen eindeutiger. Nicht immer unbedingt zum Besseren.
Zwangspause
Der Kalender von 1974 soll eigentlich ein künstlerisches Feuerwerk in einer Zirkuskulisse werden. Aber im Nachgang der Ölkrise stottert die Wirtschaft. Da die Seychellen zu dieser Zeit noch günstig sind, geht’s an den Strand statt in den Zirkus. Als Fotograf wird der Schweizer Hans Feurer aus dem Ruhestand geholt. Das Ergebnis sortiert sich irgendwo auf dem Niveau von Fototapeten ein. Ist damals zwar der letzte Schrei. Aber nicht unbedingt künstlerisch wertvoll. Die Produktion des Kalenders wird daraufhin eingestellt.
Neustart
Anfang der 1980er. Die Zeiten sind immer noch schwierig. Trotzdem entscheided der Pirelli-Vorstand 1982, wieder einen Kalender herauszugeben. Es soll ein positives Zeichen sein. Schaut her, es geht voran. Allerdings nicht in künstlerischer Hinsicht. Der deutsche Werbefotograf Uwe Ommer lässt seine Models mit dem Profil des Pirelli P6 bemalen. Was künstlerisch erscheinen soll, wirkt wie eine plumpe Werbebotschaft. Vermutlich hat die New York Times diese Fotos aus den 1980ern vor Augen, als sie 2018 rückblickend vom »gehobenen Porno-Sammlerstück« spricht, das sich zu einem kulturellen Barometer entwickelt hat.
Die Rückbesinnung
Im Laufe der Achtziger verschwinden die Reifenspuren wieder aus dem Kalender. Es folgt das, was in den vergangenen 30 Jahren den Ruf des Kalenders als kulturelles Barometer festigt. Bis ins erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts ist das der Glamour der Supermodels wie Gisele Bündchen, Naomi Campbell oder Kate Moss, inszeniert von Mario Testino, Annie Leibovitz oder Peter Lindbergh. Dazu bekommt der Kalender mit »The Cal« auch noch einen marketingkompatiblen Spitznamen verpasst.
Storytelling
Dann inszeniert 2011 Karl Lagerfeld 20 weibliche Models und sowie die Schauspielerin Julianne Moore in strengem Schwarz-Weiß als Figuren aus der antiken Mythologie. Erstmals treten auch Männer auf. Die Themen werden komplexer, vielfältiger, aussagekräftiger. Annie Leibovitz holt 2016 starke Frauen, die im Leben etwas erreicht haben, als unperfekte Persönlichkeiten vor die Kamera. 2018 inszeniert Tim Walker ausschließlich dunkelhäutige Frauen als „Alice im Wunderland“. Vergangenes Jahr findet Albert Watson unter dem Titel »Dreaming« die perfekte Antwort auf die MeToo-Debatte mit Kunstbildern, auf denen die Persönlichkeit der fotografierten Frauen im Vordergrund steht. Und für die 2020er Edition lässt sich Paolo Roversi, der erste Italiener hinter der Kamera, von Shakespeare inspirieren.