Wladimir Kaminer fragt: »Geht’s noch?«
Irgendwo zwischen Berlin und München, Wladimir Kaminer blättert in einer Zeitung. Und stößt auf diesen Artikel, in dem die Idee britischer Forscher thematisiert wird: Jeder hat sein CO₂-Budget – und muss bei möglichem Überschreiten Abstriche machen. Zum Beispiel Zug statt Auto fahren. Was für Wladimir aber gar kein Verzicht, sondern manchmal sogar Luxus ist. Und dann sind da ja auch noch die Spritpreise. Und die Ukraine. Und Russland. Weshalb sich für unseren Autor schnell die Frage stellt: »Geht’s noch?«
Auf die gibt es natürlich keine Patentantwort - weshalb wir ein bisschen vorspulen. Bis nach München. Wo Wladimir auf einen guten Freund, aber auch die Vergangenheit und die Zukunft trifft.
In München traf ich den ramp Chefredakteur Michael. Es warteten ein paar schöne Autos auf uns. Die BMW M GmbH feierte ihr fünfzigjähriges Bestehen und hatte uns für den Supersupersupertest zwei ihrer Schmuckstücke überlassen, einen M4 und einen M8. Damals, vor fünfzig Jahren, überlegten die Ingenieure von BMW, wie sie für einen Rennwagen eine Straßenzulassung bekommen könnten. So, glaube ich, entstand die neue Marke M. Wofür steht M? Da gehen nach wie vor die Meinungen auseinander. Natürlich spielt die Motorisierung eine große Rolle, es könnten aber auch Mut und Modernität dahinterstecken. Die Marke hat inzwischen eine erstaunliche Filmkarriere zurückgelegt, in »Lethal Weapon«, »Mission Impossible« und in den »The Fast and The Furious«-Filmen sind diese Autos zu sehen. Sie wurden oft als Inbegriff für Sportlichkeit und Performance benutzt.
»Kaum drückt man aufs Gaspedal, kommt die Landschaft draußen in Bewegung, die Nähe zum Horizont lässt sich buchstäblich spüren.«
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Wladimir Kaminer
In einem solchen Auto sitzend neigt man dazu, die Welt aus der Distanz zu betrachten. Kaum drückt man aufs Gaspedal, kommt die Landschaft draußen in Bewegung, die Nähe zum Horizont lässt sich buchstäblich spüren. Heute, da in der Autowelt hauptsächlich von CO2-Emissionen, Nachhaltigkeit und sutonomem Fahren die Rede ist, wirken diese Autos wie aus einer Zeit, als ein Auto noch den wahr gewordenen Traum von Freiheit und Unabhängigkeit symbolisierte, ein Luxus auf vier Rädern. Aber was ist heute Luxus für uns? Verzicht? Mäßigung? Entbehrung? Wird der Mensch in Zukunft noch selbst bestimmen können, was er will, oder wird auch die Planung seiner Wünsche dem Staat überlassen?
Ein wenig erinnert mich diese Zukunftsperspektive an meine alte Heimat, die Sowjetunion. Unser sozialistisches Imperium war eine Autarkie, arm, aber wirtschaftlich unabhängig. Mit seiner Planwirtschaft hatte es nicht nur die Menge der zu produzierenden Waren vorausgeplant, es konnte auch die Bedürfnisse der Bürger vorherbestimmen. Der Staat sagte seinen Bürgern, was sie im kommenden Jahr wollen sollten und wie viel davon. Es gab bessere und schlechtere Zeiten, mal hatte unsere Autarkie Geschäfte mit Afrikanern gemacht, dann gab es grüne Bananen. Meine Mutter hat sie immer in den Backofen gelegt, weil sie eigentlich gelbe Bananen haben wollte, handelte also dissidentisch, um den Staat zu ärgern.
»Aber was ist heute Luxus für uns? Verzicht? Mäßigung? Entbehrung?«
Die Bananen übersprangen meist die gelbe Phase und wurden gleich schwarz. Sehr selten gab es bei uns gelbe Bananen. Als sich die Armeeoffiziere in Griechenland an die Macht putschten, konnte man plötzlich grüne griechische Oliven in den sowjetischen Geschäften kaufen, und immer wieder freuten sich die Bürger über kubanische Zigaretten der Marke Pulman, die ebenfalls in dunkelgrünen Schachteln verkauft wurden.
»Wenn ich heute zurückblicke, war in der Tat alles grün in unserem roten Reich, einschließlich der Bananen. Ein Zufall? Das glaube ich kaum.«
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Wladimir Kaminer
Wir sollen uns ändern, Prioritäten anders setzen, empfiehlt die Zukunftsforschung. Gesunde Ernährung, Ruhe und Natur statt Luxus, das ist die heute dominierende gesellschaftliche Meinung. Aber was ist Luxus? Vielleicht ist es die Gesundheit, die Ruhe und die Natur, und die schönen Autos gehören auch dazu, das eine schließt das andere nicht aus. Das Geheimnis unseres Elends besteht darin, dass wir nicht wirklich wissen, was wir wollen. Unvollkommene Wesen in einer vollständigen Welt. Wir schätzen nicht, was wir haben, bis wir es verlieren. Wir wissen nicht, was wir vermissen, bis es uns wieder begegnet, und wir suchen weiter ständig, was wir nicht brauchen.
Es machte Spaß, mit dem M4 durch die dunklen Straßen Münchens zu fahren. Aber anstrengend war es auch. Zu viele Ampeln, zu viele Fußgänger auf der Straße. Während Corona wurden wir von den leeren Straßen verwöhnt. Jetzt kommen sie langsam wieder raus, die Fußgänger.
Dann schwenken die Gedanken in Richtung Zukunft: Wie soll das alles noch weiter gehen? Rechnen wir bald den Wasserverbrauch für die Herstellung der Batterien gegen Avocados auf? Für Wladimir ist der Fall klar: Zum Teufel mit dem Gemüse. Ich möchte nur ab und zu mal mit dem M4 durch die Gegend fahren. So wie an diesem Tag. In der Luft liegt an diesem Abend Mischung aus Apokalypse und Hoffnung auf eine bessere Welt. Und die inspiriert Wladimir:
»Wir brauchen unsere Irrtümer und Versuchungen, denn genau aus deren Energien entsteht die Zukunft. Wir wissen nicht, wie sie aussehen wird. Wie die Blinden tasten wir uns durch, jeder versucht, wie er kann, die Zukunft zu berühren. Die Ausgabenstelle für Blindenstöcke hat durchgehend geöffnet.«
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