Paul Bergens Konzertfotografie: Smells Like Teen Spirit
Manche behaupten, es wäre das Jahrzehnt, das von Nirvana und britischen Superbands wie Oasis oder Massive Attack und überhaupt von Open-Air-Konzerten geprägt gewesen wäre. Von Designern wie Helmut Lang oder Tom Ford, der bei Gucci den Stil neu erfand. Andere wiederum – und dazu zählen insbesondere die Kinder der Neunziger – würden eher konstatieren, dass es eine Ära der Geschmacksverirrungen ohne Langzeitwirkung war. Eine Zeit, in der Miuccia Prada den »geek chic« mit seinen hässlichen Prints und Schnitten präsentierte, man enge Tops, weite Hosen und bunte New-Balance-Sneakers trug und zu Songs wie »Wannabe« von den Spice Girls oder, schlimmer noch, zu »Macarena« tanzte. Das Schöne ist: Sie haben alle recht.
Wahr ist, dass die Neunziger das letzte Jahrzehnt waren, in dem noch hemmungslos in Clubs gequalmt und gesoffen wurde und Drogen eher lustig aussahen. Allerdings war nichts davon jugendlichem Aufbegehren geschuldet. »Die Rebellion», so schrieb Rebecca Cassati einmal in der »Zeit« über die Neunziger, »bestand im Nichtrebellieren, in der Passivität oder Autoaggression.« In den Achtzigern kämpfte man noch mit einem Jutebeutel in der Hand gegen die Atomkraft oder mit überdimensionierten Schulterpolstern für den Hedonismus. In den Neunzigern ließ man die Schultern hängen und sang die Zeile »Black hole sun, won’t you come and wash away the rain« von Soundgarden.
Was aber nicht bedeutet, dass in diesen Jahren nichts passiert wäre, im Gegenteil. Am 9. November 1989 fiel die Mauer, die Handy- und Computertechnologie entwickelte sich in rasender Geschwindigkeit. Zwar wurde schon 1983 das erste Mobiltelefon kommerziell verkauft, die Massen erreichte es aber erst zehn Jahre später. Wer Mitte der Neunziger kein Nokia 1011, Spitzname »Knochen«, besaß, hatte den Einschlag echt nicht mitbekommen. Das Gleiche galt für Computer. Zu Beginn des Jahrzehnts nannte man Menschen mit einem Rechner noch »Weirdos«, zehn Jahre später fand man jeden befremdlich, der kein PowerBook 100 von Apple (mit 16 unterschiedlichen Graustufen) sein Eigen nannte. Sowieso wurde alles digitalisiert, was es eigentlich schon gab: Wissenswertes las man im Internet und nicht mehr im Buch, Nachrichten schrieb man per Mail oder SMS und nicht mehr per Hand. Und was die Musik anging: Die CD löste die Schallplatte und die Kassette ab.
»Ich hatte an einem Interviewtag mit Steven Tyler und Joe Perry ein Shooting. Ich war als Letzter an der Reihe, alles war sehr entspannt und professionell. Als ich fertig war, holte Sänger Steven Tyler ein Mundstück aus seiner Tasche und bat mich, es separat zu fotografieren. Er sagte mir, ich solle ganz nah rangehen und darauf achten, dass ich mich in seiner Sonnenbrille sehe. Es ist ein schönes, ungewöhnliches Porträt geworden. So etwas denkt man sich nicht aus, wenn man zu einem Shooting geht.«
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Paul Bergen
Das Faszinierende an den Neunzigern ist vielleicht tatsächlich, dass alles ging, und zwar schnell. Germanistinnen ließen sich Tribal-Tattoos über den Allerwertesten stechen oder zogen sich Ringe durch die Nase. Verwaltungsfachangestellte schnallten sich Staubsauger auf den Rücken und »zappelten« auf den ersten Techno-Partys in Bunkern herum. Überhaupt erstaunlich, was musikalisch alles geboten und geboren wurde: Der totgeglaubte Rock feierte mit Bands wie Pearl Jam, Smashing Pumpkins, Foo Fighters, Oasis oder Skunk Anansie ein Revival. Drum and Bass wurde in England aus der Taufe gehoben – und in Deutschland das Eurodance- und Trance-Projekt Snap! mit seinem stampfenden 4/4-Takt.
Aus heutiger Sicht wirkt es wie das letzte Jahrzehnt, in dem die Welt noch in Ordnung war, obwohl das natürlich Unsinn ist. Allerdings folgt die Zäsur am 11. September 2001. Mit dem Anschlag auf das World Trade Center begann ein neues Zeitalter der Furcht und der Verbote. Und von dieser Warte aus betrachtet zeichnen sich die Neunziger durch eine bemerkenswerte Kombination von Leichtigkeit und Schwermut aus. Ziemlich hässlich, das Ganze, ziemlich krude, aber genau dadurch einmalig.